Zeitkapsel

„Früher war alles Besser!“, diesen Satz habe ich schon oft gehört und ein ums andere Mal auch schon selbst behauptet. In Chile bin ich in einem dieser „Früher“ angekommen, denn Frutillar konserviert dieses „Früher“ in einer Zeitkapsel. Wenn ich die Augen schließe, kann ich Kutschen durch die Straßen fahren hören. Die Luft ist geschwängert vom dicken Rauch der Holzöfen, der mit einem beißenden Geruch in weißen Schwaden durch die Gassen zieht. Ich bilde mir ein, das harte Leben der ersten Siedler in dieser Region zu spüren. Überwiegend Deutsche welche die hoffnungslosen Verhältnisse in ihrer Heimat nach der industriellen Revolution nicht mehr ertragen haben und einen Ausweg in der Auswanderung suchten. Puerto Varas und Frutillar sind geprägt vom Baustil der Heimat dieser Einwanderer, überall sieht man Häuschen die in dieser Form auch im Schwarzwald stehen könnten.

Im Museo Colonial Alemán de Frutillar ist diese Zeit in besonderer Form konserviert. Es beschreibt die Ursprünge der Einwanderung und das einfache Leben, meist geprägt durch die Landwirtschaft jener Zeit. In der Schmiede treffe ich Señor Franz Dann, Sohn eines deutschen Schmieds aus Berlin der irgendwann am Anfang des 19. Jahrhunderts nach Chile ausgewandert ist und in Chile eine, ebenfalls deutschstämmige, Siedlerin geheiratet hat. Franz Dann stanzt, im stolzen Alter von 79 Jahren, Namen in kleine Hufeisen und verkauft sie als Glücksbringer an Touristen. Er fragt, woher ich komme und als ich „Alemania“ antworte, spricht er Deutsch mit mir als sei es das normalste der Welt, obwohl er noch nie einen Fuß auf den Boden der Heimat seiner Eltern gesetzt hat.

„Ich habe kein Kleingeld“, war seine Antwort und als er mich mit seinen stechend blauen Augen ansieht, meine ich den traurigen Verlust einer Tätigkeit, die in den heutigen Zeiten keinen Platz mehr in der Gesellschaft hat, zu spüren. Deutsch hat er von seinem Vater gelernt und als ich ihn Frage wie alt er ist, antwortet er mit ernstem Gesicht, dass meine Frage falsch sei. Ich verstehe nicht ganz und wiederhole die Frage auf Spanisch. Doch er sagt mir, dass er mich schon verstanden hat, aber die Frage falsch sei. „Warum?“, frage ich und er erklärt mir, dass es eigentlich heißen müsste, wie viel Jahre jemand habe. Denn man könne doch unmöglich annehmen, dass jemand alt sei, bevor er die Möglichkeit hatte zu antworten. Und außerdem, was wäre, wenn man einen jungen Menschen fragt? Er kann doch noch gar nicht alt sein. Die Frage ist also komplett verkehrt und es scheint doch viel sinnvoller (und darüber hinaus auch höflicher) zu sein, nach den Jahren zu fragen!

Im Alter von 29 Jahren, aufgewachsen mit Deutsch als Muttersprache, muss ich mit Schande gestehen: Dieser alte Mann hat Recht! Auch wenn mir bewusst ist, dass er sich der spanischen Grammatik behilft um die Sätze auf Deutsch zu gestalten, in diesem Punkt wird der Wahrheitsgehalt kaum geschmälert. Unmittelbar befinde ich mich in einem Zerwürfnis, da wir außerordentlich limitiert bei der Wahl dieser Frage sind. Denn nüchtern betrachtet impliziert es doch immer, dass jemand „alt“ ist. Hiermit möchte ich also eine Petition zur Änderung der Frage nach dem Alter starten, Vorschläge können gerne als Kommentar gepostet werden.

„Auf dem Foto dort an der Wand, der Junge mit den kurzen Hosen, dass bin ich im im Alter von 15 Jahren. Mein Vater, ist der Mann in der Mitte. Wir haben gerade in der Schmiede gearbeitet und ein Wagenrad repariert.“, und er erzählt mir weiter, dass er sein ganzes Leben in Frutillar verbracht hat.

Nach diesem Gespräch schwirren mir einige Fragen im Kopf. Eine davon ist: Was passiert, wenn die Zeitzeugen, welche das was wir heute als Geschichte bezeichnen am eigenen Leib erfahren haben, nicht mehr vorhanden sind? Wenn Menschen keine Gefühle, Stimmungen oder Ansichten aus einer Zeit berichten können, die wir nur von Bildern oder geschriebenen Berichten kennen? Manchmal reicht es nicht aus, die Schwarz-Weiß-Dokumentationen auf N24 zu gucken, um ein „Bild“ davon zu bekommen, wie es in einer anderen Epoche zugegangen sein mag. Es ist traurig zu wissen, dass dieses lebendige Wissen irgendwann verloren geht und, wenn überhaupt, nur noch Geschichtsbücher davon berichten werden.

Als ich Franz Dann frage ob ich Fotos von ihm machen darf, wirft er sich stolz in Pose. Ich denke ich bin nicht der Erste der fragt und er scheint diese kleine Aufmerksamkeit zu genießen, denn danach beichtet er mir, dass ich heute sein einziger Kunde war. Mit zwei glücksbringenden Hufeisen und noch mehr offenen Fragen im Gepäck verlasse ich ihn, dankbar für diesen kleinen Ausflug in eine andere Zeit.

4 comments on “ZeitkapselAdd yours →

    1. Vielen Dank, Lisa… solche Kommentare sind für mich ein kleiner Lohn für die Mühe die es mitbringt diese Artikel zu schreiben. 🙂

  1. Hallo Michael, wir haben deine Geschichte mit großem Interesse verfolgt und die tollen Fotos betrachtet. Deine Texte sind richtig gut und die Fotos Klasse. Es ist gut zu wissen, dass es dir offenbar gut geht. Weiterhin spannende und interessante Erlebnisse. Genieße die Zeit. Wir werden dich weiter „verfolgen“. Viele Grüße Wolfgang

    1. Hallo Wolfgang, es freut mich, dass die Artikel gut bei euch ankommen und vielen Dank für das Lob. Das nächste Highlight steht schon in den Startlöchern, aber da es stark wetterabhängig ist, kann ich noch nichts verraten. Es bleibt also weiter spannend… Liebe Grüße aus Pucón – Chile, Michael

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